China-Expertin: "Die USA unternehmen alles, damit das autoritäre China technologisch zurückbleibt"

Von

Katrin Büchenbacher,

Philipp Wolf

03.04.2023, 05.30 Uhr

Die Sinologin Marina Rudyak studiert chinesische Propaganda. Sie sagt, daran lasse sich ablesen, wann China Taiwan angreifen werde - und dass China gar nicht die Weltmacht Nummer eins werden wolle. Um die Insel Kinmen, die zu Taiwan gehört und wenige Kilometer vor dem chinesischen Festland liegt, wurde bereits 1949 einmal gekämpft. Ein Museum auf der Insel erinnert an die Schlacht von Guningtou.
An Rong Xu / Getty

In China stehen neue Köpfe an der Spitze von Partei und Staat. Was bedeutet das für die chinesische Aussenpolitik?

In der Rede des neuen Ministerpräsidenten Li Qiang zum Abschluss des Nationalen Volkskongresses Mitte März gibt es eine kleine rhetorische Verschiebung zu Taiwan, die sehr spannend ist. Er sagte, die Vereinigung mit Taiwan sei eines der Themen des chinesischen Wiederaufstiegs. Das ist eine Abschwächung, denn zuvor war es Standard zu sagen, dass man notfalls zu militärischen Massnahmen greifen werde.

Folgt daraus, dass wir in den kommenden Jahren nicht mit einem Angriff Chinas auf Taiwan rechnen müssen?

China müsste, rational gedacht, versuchen, einen militärischen Konflikt zu vermeiden. Die chinesischen Streitkräfte sind nicht kampferprobt. Und der Krieg in der Ukraine sollte eigentlich für Peking als abschreckendes Beispiel dienen.

Die Aussagen von Li Qiang verstehe ich so, dass zwar eine Vereinigung mit Taiwan angestrebt wird, solange Xi Jinping noch an der Macht ist - sicher in den nächsten fünf Jahren, vielleicht auch in den nächsten zehn. Aber nach Möglichkeit nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch Desinformationskampagnen oder vermehrte Versuche der direkten Einflussnahme auf einzelne Figuren in Taiwan.

Doch was passiert, wenn die USA eine rote Linie Pekings überschreiten? Woran erkennen Sie, dass China einen militärischen Schlag vorbereitet?

Das dürften wir an der Veränderung der Rhetorik sehen. Der chinesische Staat funktioniert stark über Propaganda und Indoktrination. Im Moment ist das dominierende Thema immer noch der chinesische Wiederaufstieg. Wenn China Taiwan angreifen würde, müsste das Regime die Bevölkerung zunächst einmal auf einen Krieg mit Taiwan einschwören. Wenn wir gewarnt sein wollen, müssen wir also tagtäglich "Renmin Ribao", die "Volkszeitung", nach Reden des Chefideologen Wang Huning und anderen Regierungsmitgliedern durchforsten und analysieren, ob sich die Wortwahl ändert.

Ist das nicht alles Propaganda?

Propaganda ist ein Kommunikationsmittel. Es hätte uns auch bei Russland gutgetan, die Propaganda ernst zu nehmen. Durch Texte und Reden der Partei wissen wir, wie in der Partei gedacht und gesprochen wird. Dafür müssen wir aber an die chinesischen Originalquellen ran, denn übersetzt wird nur ein Bruchteil. Daran, wie die verschiedenen Parteifunktionäre schreiben, lassen sich zum Beispiel die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Partei ablesen.

Gibt es die noch?

Natürlich gibt es die. Ich gehe davon aus, dass sich jetzt neue Fraktionen bilden, da Xi seine Macht konsolidiert hat. Nicht sofort, aber in den nächsten Jahren. Diese neuen Machtzentren werden sich in Stellung bringen, um Xi dereinst zu beerben.

Zur Person

PD

Marina Rudyak
Die Sinologin ist akademische Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg und vertritt den Lehrstuhl für Chinas Gesellschaft und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie beschäftigt sich mit Chinas politischer Rhetorik, seiner Rolle in der Welt und seinen internationalen Beziehungen. Gemeinsam mit Katja Drinhausen, Malin Oud, David Bandurski und Jerker Hellström hat sie ein Wörterbuch der zentralen Begriffe der chinesischen Aussenpolitik herausgegeben. Vor ihrer akademischen Karriere war Rudyak mehrere Jahre als wirtschaftspolitische Beraterin für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Peking tätig.

Zurück zu Taiwan. Sie sagen, wenn China einen Angriff planen würde, könnten wir das an einer Veränderung der Rhetorik ablesen. Aus den USA gibt es jedoch immer wieder Stimmen, die vor einer baldigen Übernahme Taiwans durch China warnen. Irren sie?

Die USA sprechen von einer Möglichkeit, und diese besteht durchaus. Diese Rhetorik zielt aber vor allem auf Abschreckung. Man möchte verhindern, dass China so weit geht. Das kann funktionieren, es kann aber auch zu noch grösseren Spannungen führen, weil es die Falken in Peking befeuert.

Wie kommt der amerikanische Alarmismus denn überhaupt in Peking an?

Er wird genau so verstanden, wie es von den USA gemeint ist. In Peking ist man sich bewusst, dass die USA kein Interesse daran haben, dass China ein ebenbürtiger Akteur in einer multipolaren Welt wird. Die USA haben sich entschieden, dass ihr Hauptinteresse darin besteht, weltweit die Macht Nummer eins zu bleiben. Daraus leiten sie ab, alles zu unternehmen, damit das autoritäre China technologisch zurückbleibt.

Eine Politik der Eindämmung also.

Ja. Die USA hätten ja auch einen anderen Weg wählen und sagen können: Wir investieren in die amerikanische Forschung und Entwicklung, holen die schlausten Köpfe und schauen, dass wir dauerhaft besser bleiben. Mit der jetzigen Strategie verschaffen sich die USA vielleicht zehn Jahre Vorsprung, schaden aber gleichzeitig ihrer Soft Power im globalen Süden.

Wie meinen Sie das?

China will sich als eine alternative Grossmacht im globalen Süden etablieren. China behauptet, dass es den Grossteil der Welt vertrete, nämlich die Entwicklungs- und Schwellenländer. Es sagt, dass für diese Länder die wirtschaftliche Entwicklung das wichtigste Thema sei. Und dafür brauchen sie Sicherheit, Frieden und Stabilität. China sagt, dass es genau dafür eintrete. Vor diesem Hintergrund ist die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Saudiarabien und Iran unter chinesischer Vermittlung ein Game-Changer.

Was kann der Westen China da entgegenhalten?

Wir müssen radikal ändern, wie wir über Entwicklungsherausforderungen im globalen Süden denken. Nämlich nicht als "deren Problem, irgendwo da drüben", sondern als unser Problem. Denn China spricht von einer "Schicksalsgemeinschaft der Menschheit" und davon, die Probleme gemeinsam zu lösen. Solange wir da nicht umdenken, werden wir gegenüber China logischerweise den Kürzeren ziehen.

Will China die USA als führende Weltmacht ablösen?

Darauf lässt die chinesische Rhetorik bis jetzt nicht schliessen. China spricht von einer multipolaren Welt. Doch wir wissen natürlich nicht, ob China sich damit begnügen wird, eine Macht unter anderen zu sein, wenn es bis 2049 nach eigenem Verständnis ein starker, grosser, moderner, sozialistischer, "demokratischer" Staat geworden ist.

Eine Entspannung der Rhetorik zwischen den USA und China ist nicht in Sicht.
Kevin Frayer / Getty

Es scheint logisch, dass China die dominante Weltmacht sein wird, sollte es einmal die grösste Wirtschaftsmacht werden.

Dagegen spricht, dass die chinesische Politik in Zyklen denkt. Die chinesische Theorie der internationalen Beziehungen geht davon aus, dass jede Grossmacht untergehen muss, dass, wer an der Spitze steht, herausgefordert wird. Niemand kann ewig führend bleiben. Deshalb ist es fraglich, ob China zwingend Hegemon werden will. Das Fortbestehen des eigenen Regimes wäre sicherer, wenn es eine unter mehreren Grossmächten wäre.

Was bedeutet das für die heutige regelbasierte Weltordnung, die von den Amerikanern geprägt wurde? Will China diese Ordnung ändern, oder will es innerhalb dieser aufsteigen?

China stellt sich stets als Verteidiger der Uno-Charta dar. Doch was wir tatsächlich sehen, ist, dass die Grundprinzipien der Charta uminterpretiert und mit "chinesischen Charakteristiken" versehen werden. Zum Beispiel gibt es für China nicht bloss eine Art von Demokratie, sondern mehrere. Sich selbst bezeichnet es als "Gesamtprozess-Volksdemokratie".

Damit weicht China den Wertekonsens der internationalen Staatengemeinschaft auf, gerade bei den Menschenrechten, zum Beispiel. Diese definiert China ja ebenfalls anders.

China setzt der Universalität der Menschenrechte eine Menschenrechtshierarchie entgegen und sagt, das Recht auf Entwicklung sei das höchste Menschenrecht. Entwicklung braucht Investitionen in Infrastruktur, Stabilität und Sicherheit. Die individuelle Freiheit kommt irgendwann am Ende, wenn alles andere erreicht ist. Aus dieser Perspektive haben Individuen keine eigene Handlungsfähigkeit (agency). Über Handlungsfähigkeit verfügen aus Chinas Sicht lediglich Grossmächte. China, die USA, Russland und vielleicht ein paar wenige weitere Staaten.

Wie steht es denn um die Handlungsfähigkeit der EU gegenüber China?

Es ist im Interesse der EU, die eigene Handlungsfähigkeit zu bewahren. Die Frage ist nicht, auf welche Seite sich die EU stellt. Sondern: Was sind eigentlich die eigenen Werte und Interessen der EU, und was sind die besten Strategien, diese zu verteidigen?

Was wäre denn eine mögliche Strategie für die EU?

Verteidigung von Multilateralismus, der regelbasierten internationalen Ordnung und von offenem und fairem Handel. Der europäische Wohlstand basiert auf der Möglichkeit, Handel zu treiben, und dafür braucht es internationale Stabilität. Das gilt insbesondere für Deutschland als Exportnation.

Unabhängig davon ist es aber für Deutschland und die EU absolut nötig, dass man die Abhängigkeit vom chinesischen Markt reduziert. Denn Xi sagte bereits 2015, es solle global keine relevante Produktionskette geben, die ohne China auskomme ...

... was gleichbedeutend wäre mit einer hochriskanten Abhängigkeit von China.

Genau. Xi will China wirtschaftlich so positionieren, dass es einen enormen Hebel bekommt. Wir müssen unsere Wirtschaft resilienter aufstellen, damit wir diesem Hebel nicht komplett ausgeliefert sind, falls Xi sich entscheidet, ihn einzusetzen.

Gibt es denn Alternativen für die EU zur amerikanischen Eindämmungspolitik gegenüber China?

Auch in den USA argumentieren viele, dass eine schlichte Eindämmungsstrategie wenig Erfolg verspreche - wenn sie nicht von Diplomatie flankiert werde. Gleichzeitig ist in den USA trotz dem Ruf nach Entkoppelung der Handel mit China gestiegen.

Wir müssen als EU zunächst für uns definieren: Wo können wir mit China, wo können wir nicht ohne China, und wo müssen wir gegen China arbeiten? Es hat eben potenziell politische Konsequenzen, wenn die EU bei kritischen Metallen und Rohstoffen zu 98 Prozent von China abhängig ist oder wenn systemrelevante Unternehmen ohne China nicht überleben könnten. Dann braucht es ein gemeinsames Verständnis zwischen den USA und der EU, wo China als Herausforderung gesehen wird. Taiwan ist sicher so ein Punkt.

Was wäre die Konsequenz, wenn die EU den konfrontativen Kurs der USA übernehmen würde?

Sollte die EU sich von China abkoppeln, würde es für Xi deutlich schwieriger, das erklärte Ziel des "gemeinsamen Wohlstands" zu erreichen. Es liegt eigentlich nicht im chinesischen Interesse, sich von Europa abzukoppeln. Die EU ist ein essenziell wichtiger Markt für China. Der EU-Binnenmarkt ist eigentlich ein machtvolles Instrument, um die fundamentalen europäischen Werte einzufordern. Eines, das die EU strategisch nutzen sollte.


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